"Kleine Museen"
(Der Standard, 4.8.2002) Es gibt die großen Museen. Es gibt die großen, medial erfolgreich vermarkteten Ausstellungen: von der chinesischen Reiterarmee bis zur Armada der berühmten Namen zwischen Rembrandt und Picasso. Es gibt auch die großen staatlichen und privaten Sammlungen, die verschiedene Gebiete enzyklopädisch im Gehäuse des Wissens zu bündeln versuchen: Kunst, Technik, Naturwissenschaft, Haus der Geschichte. Aber neben diesen Highways der Bildung verlaufen viele kleinere, verzweigte, oft auch abwegige Bahnen: Sammler schlagen Schneisen, gruppieren zu einer scheinbar begrenzten Thematik die Objekte ihrer Leidenschaft. So entstehen neben der "großen" und offiziellen Geschichte die vielen Mikrogeschichten, die aber in ihrer Gesamtheit das Mosaik der Mentalität einer Zeit, eines Landstrichs bilden. Deshalb verdienen die kleinen, spezialisierten Sammlungen mehr Beachtung. Und deshalb wird eine am 3. August im STANDARD beginnende Serie in knappen Beiträgen einige dieser manchmal skurrilen Sammlungen vorstellen. Sie umspannen, verstreut über das Land, alle Lebensbereiche: Zur Geschichte der Uhren, zur Geschichte des Bestattungswesens (dies hat mit Ersterem ja den Ablauf der Zeit gemein), zur Geschichte der Gewürzmittel, des Alkohols, des Tabaks, der Drogen; zur Geschichte des Rades, der Straßenbahn, des Automobils. Dann, größer, zur Geschichte der städtischen und ländlichen Arbeit, des Rechts- und Gesundheitswesens, der Freizeitkultur: Die französischen Mentalitätshistoriker haben in der Tradition ihrer Gründungsväter Marc Bloch und Lucien Febvre gerade diese scheinbar "kleinen" Bereiche ins Zentrum gerückt und die Gefühlslage von Epochen rekonstruiert. Warum also führen kleinere Museen immer noch ein Mauerblümchendasein am Rande der öffentlichen Wahrnehmung? Warum werden die skurrileren unter ihnen, und auch sie sollen in der Serie vorkommen, oft nur von Menschen mit ebenso skurrilen Neigungen besucht? Wäre es nicht an der Zeit, das Verdienst der Sammler hervorzuheben? Rudolf der Zweite von Habsburg sammelte in seinem Prager Hradschin neben astronomischen Geräten auch Gemälde. Darunter auch Außenseiter wie den Manieristen Arcimboldo: Heute sind diese Bilder ein Schmuckstück des Kunsthistorischen Museums. Drei Jahrhunderte später sammelte ein anderer großer Melancholiker, Walter Benjamin, noch viel unscheinbarere Dinge: Kinderbücher. Diese Sammlung - die umfassendste der wilhelminischen Epoche - wurde im Nationalsozialismus zerstört. Nicht ausgelöscht aber konnten die tief schürfenden Überlegungen werden, die Walter Benjamin dem Phänomen des Sammelns widmete. Ein Blick darauf sollte auch am Beginn unserer kleinen Sammlung von Sammlungen (ab heute jedes Wochenende im "Szenario") stehen: Beute der Erinnerung Anthropologisch betrachtet, so Benjamin, wohnt Sammlungen ja oft das kindliche Glück des Beutemachens inne: "Unordentliches Kind. Jeder Stein, den es findet, jede gepflückte Blume und jeder gefangene Schmetterling ist ihm schon Anfang einer Sammlung. Kaum tritt es ins Leben, so ist es Jäger. Es jagt die Geister, deren Spur es in den Dingen wittert." - Solche Geister nun erwachen in jeder guten Sammlung: Nicht nur die Geister derer, zu denen die Gegenstände - ob Spielzeug, Bücher oder Uhren - einst gehörten, sondern auch der Geist geschichtlicher Epochen: Der Unterschied zwischen einem Kutschenmuseum in Wien und einem Automobilmuseum in Niederösterreich lässt auch völlig gewandelte Erlebnisweisen nachvollziehbar werden. Objekte einer Sammlung umschließen immer Geschichten und Geschichte: die ihres Erwerbs und die der Zeit, aus der sie stammen. "Zeitalter, Landschaft, Handwerk - sie alle rücken zu einer magischen Enzyklopädie zusammen", meinte Benjamin: Die Objekte bilden einen eigenen Raum der Erinnerung. Diese Erinnerung weicht oft ab von der "großen", der staatlichen oder medialen: Kleine Museen auf Abwegen, manchmal auch nur Gedenkräume oder Dokumentationen untergegangener Berufe schaffen einen Erinnerungsraum, der die Nischen des Alltags, den Staub in den Verliesen der Geschichte sichtbar macht: Zur Entdeckung solcher Nischen will die Serie beitragen. (DER STANDARD, Printausgabe, 3./4.8.2002) |